Fallbeispiele aus dem Klinikalltag: Kleinkriege in einem großen Team
In diesem Fallbeispiel möchte ich anhand einer realen Situation (Namen von Personen und Abteilungen wurden natürlich geändert), Umstände aufzeigen, wie es in Kliniken zu unterschiedlichen Konfliktsituationen kommt. Alle Beispiele kommen aus meiner Praxis und beschreiben die Situation vor Beginn meiner Arbeit mit den Führungskräften und/oder den Teams.
Mein Ziel ist es aufzuzeigen, wie Konflikte Kliniken lähmen können und wie wichtig es ist, Konflikte frühzeitig zu thematisieren und anzugehen. Weitere Informationen zu dem Thema: „Konfliktlösungen im Klinikalltag“ finden Sie in meinem Ebook: Wie Konflikte Kliniken lähmen. Erhältlich über Amazon als Druckversion oder als PDF kostenfrei über diese Webseite. Natürlich können Sie sich auch gerne direkt an mich wenden, wenn Sie persönliche Hilfe vor Ort benötigen.
Fallbeispiel 1:
Das Gesamtteam der Station für Innere Medizin eines Hauses der Grund- und Regelversorgung ist in einem desolaten Zustand. Unterschiedliche ungelöste Konflikte und viele Krankheitstage haben hausintern zum Spitznamen „Der Zoo“ geführt: wild, undiszipliniert und laut. Mit insgesamt 38 Pflegekräften gehört „Der Zoo“ zu den größten Stationsteams im Hause.
Die Stationsleitung ist eine gestandene Pflegekraft. Mit Anfang 50 merkt sie allerdings, wie die eigenen Kräfte langsam schwinden. Zudem hat sie wenig Verständnis für die „neue“ Arbeitsmoral der frisch examinierten Pflegekräfte. Ihrer Meinung nach sind die jungen Mitarbeiter oft egoistisch und mehr mit ihren Freizeitaktivitäten (oder dem Handy) beschäftigt als mit der Arbeit. Das zeigt sich immer wieder bei der Dienstplangestaltung: „Da muss ich frei haben, denn ich plane, aufs Open Air in X zu gehen. Den Tag danach bin ich dann fertig!“, kriegt sie so oder ähnlich des Öfteren zu hören.
Social Media und Datenschutz
Außerdem ist sie verletzt, dass Interna der Station und Privates zu ihrer Person mittlerweile in Internetforen oder auch auf Facebook veröffentlicht werden. Da dies der Pflegedirektorin zugetragen wurde, liegt der gesamte Vorgang jetzt bei der Geschäftsführung. Sie debattiert schon seit Längerem über disziplinarische Maßnahmen für die „kommunikationsfreudigen“ Mitarbeiter, deren Verhalten, auch aus Datenschutzgründen, geahndet werden müsste. Gleichzeitig ist das Ganze der Stationsleitung einfach nur peinlich, da so der Eindruck entsteht, sie habe ihre Mitarbeiter einfach nicht im Griff.
Leitung und Stellvertretung können nicht miteinander
Zwischen ihr und ihrer Stellvertretung herrscht wenig Kommunikation und kaum Sympathie, sodass die Vertretung sich bei gemeinsamen Dienstzeiten öfter krank meldet. Da sie außerdem nur Teilzeit arbeitet, läuft die Kommunikation meist schriftlich ab, da beide selten gemeinsam Dienst haben. Das wiederum führt zu vielen Missverständnisse, die aber wegen fehlenden gemeinsamen Schichten so gut wie nie persönlich thematisiert werden.
Wird einmal über Kommunikations- oder andere Probleme gesprochen, zieht sich die Stellvertretung schnellstens auf die Opferrolle zurück, schmollt und lässt ihren Ärger an den Mitarbeiterinnen aus beziehungsweise lamentiert über die starre und unkollegiale Haltung der Stationsleitung.
Gerade bei den neuen Pflegekräften entsteht so der Eindruck, dass die Stationsleitung eine „richtige Hexe“ ist. Darüber tauscht man sich dann auch hemmungslos in einer eigenen WhatsApp-Gruppe aus.
Jedes große Team hat Unterteams
Innerhalb des Teams haben sich, bedingt durch die Größe, diverse Unterteams gebildet.
Anmerkung: Aus gruppendynamischer Sicht ist das Bilden von Kleingruppen innerhalb einer großen Gruppe unproblematisch, solange es keine starre Abgrenzung gegenüber Mitgliedern der anderen Gruppen gibt oder sie ausgegrenzt werden. Ansonsten entsteht hier ein guter Nährboden für Mobbing.
Zum einen gibt es zwei große Gruppen: die Alten und die Neuen, je nach Dauer der Teamzugehörigkeit. Die Alten verhalten sich größtenteils der Stationsleitung gegenüber sehr loyal, die schon seit über 10 Jahren diese Position bekleidet. Die Mitarbeiter, die erst seit 1 bis 2 Jahren auf Station sind, sehen sich eher durch die Stellvertretung repräsentiert, die ihnen auch altersmäßig näher ist.
Eine weitere Gruppierung: die Älteren und die Jüngeren, bezogen auf das Alter. Die Älteren zeichnen sich durch teilweise jahrzehntelange Berufserfahrung aus, die aber bei der einen oder anderen Pflegekraft zu einer großen Sturheit bezüglich Neuerungen geführt hat: „Das haben wir schon immer so gemacht.“
Altersbedingte Unterschiede führen zu Abwertung
Die Jüngeren haben andere Vorstellungen vom Pflegeberuf und bringen zum Teil auch neue Ideen aus den Ausbildungen mit. Sie sehen sich als fortschrittlich an und sind schnell damit, die älteren Kolleginnen als unflexibel und altmodisch darzustellen. Nur wenige versuchen von deren jahrzehntelangen Erfahrungen zu profitieren.
Gleichzeitig gibt es zum Teil auch einen altersbedingten Leistungsabfall, der gerade die Jüngeren stört, die oftmals das Gefühl haben, mehr und schneller zu arbeiten. Und vielen fehlt auch ein gewisses Maß an Geduld, da sie sich natürlich nicht vorstellen können, irgendwann mal selbst in dieser Situation zu kommen …
Diesen Arbeitsstil wiederum sehen die Älteren als oberflächlich an. Grundsätzlich sind sie der Meinung, die Jüngeren wüssten nicht mehr, wie man „korrekt“ pflegt, und wüssten angeblich auch alles besser. Es fehlt also an der gegenseitigen Wertschätzung und an der Offenheit für die Andersartigkeit der jeweiligen Kolleginnen und Altersgruppe.
Anmerkung: Ein weiteres Phänomen, das, meiner Erfahrung nach, eher in Frauengruppen auftritt, ist der Erziehungsanspruch. Vielleicht hat er damit zu tun, dass die Frauen die Kinder gebären, vielleicht aber auch damit, dass Frauen oft andere für ihre eigene Zufriedenheit verantwortlich machen. Daraus resultiert wiederum, dass viele andere zu einer Verhaltensänderung bringen wollen, die sie selbst zufriedenstellen soll. Das nenne ich einen Erziehungsanspruch. Er begegnet mir immer wieder in Aussagen wie: „So macht man das nicht. Die kann doch so etwas nicht einfach so sagen. Die sollte mal …“
Diese Gruppenbildungen führen dazu, dass sich Mitarbeiter immer wieder bitter beschweren, wenn sie nicht mit ihren „Wunschkollegen“ arbeiten können, und manche drohen dann sogar mit dem Krankenschein …
Welche Konfliktarten zeigen sich in diesem
Konflikt?
Der Loyalitätskonflikt
In dieser großen Gruppe zieht sich der Loyalitätskonflikt durch wie ein roter Faden. Unter den beiden Leitungspersonen herrscht keinerlei wechselseitige Loyalität, was letztendlich das Team spaltet. Besonders, da die Stellvertretung sich auch immer wieder gegenüber den Mitarbeitern negativ über ihre Kollegin äußert. Es gibt mittlerweile zwei Unterteams, von denen sich das eine als loyal gegenüber der Stationsleitung empfindet, das andere gegenüber der Stellvertretung. Bei neuen, eher jüngeren Mitarbeitern wird sofort eine unbewusste „Indoktrination“ durchgeführt und die meisten fügen sich diesem Diktat relativ schnell. Mitarbeiter, die sich keiner Gruppe zuordnen, werden immer mehr isoliert.
Anmerkung: Gerade im Pflegeberuf gibt es viele Menschen, die man als harmoniebedürftig einstufen würde. Die Gruppenzugehörigkeit geht ihnen über alles und die offene Konfrontation in Konfliktsituationen ist vielen äußerst unangenehm. Zusätzlich werden bestehende Konflikte oft nicht be- oder verarbeitet, was zum Vermeiden und Nachtragen führt. Gleichzeitig ist, bedingt durch den hohen Frauenanteil, gerade diese Berufsgruppe sehr kommunikativ. Negative Erlebnisse oder subjektiv erlebte Verletzungen werden auch meistens sofort weiter kommuniziert. Somit können schnell brodelnde Gerüchte entstehen und sich Fronten bilden, die sich relativ rasch verhärten können.
Der Kommunikationskonflikt
Da die Kommunikation zwischen den beiden Stationsleitungen vermehrt nur noch schriftlich stattfindet, ist die Gefahr von Missverständnissen groß. Da man den Gesprächspartner nicht sehen kann, fehlt die Einschätzung der Körpersprache. Je nach Kommunikationsstil lässt die schriftliche Kommunikation unendlichen Raum für subjektive Interpretationen und Fehlinterpretationen, die fast nie überprüft werden.
Der Massnahmenkonflikt
Er entsteht gerade immer wieder zwischen den älteren und den jüngeren Mitarbeitern. Die älteren Pflegekräfte erinnern sich noch an Zeiten, da sie für die Pflege der Patienten noch sehr viel Zeit hatten. Daraus ist bei manchen ein Anspruch auf „perfekte Pflege“ entstanden. Die jüngeren Pflegekräfte haben schon in der Ausbildung gelernt, dass es mittlerweile nicht mehr um perfekte, sondern um bestmögliche Pflege innerhalb eines engen Zeitkontingents geht. Das führt immer wieder zu Diskussionen, welche Art von Pflege nun korrekt bzw. besser ist.
Lösungsversuche
Die Stationsleitung hat immer wieder probiert, der Stellvertretung ihre Sicht zu vermitteln, um durch wiederholte Abmachungen und Zielvorgaben eine effektive Zusammenarbeit zu erreichen. Die Stellvertreterin fühlt sich unverstanden und gegängelt. Daher zieht sie sich immer mehr zurück.
In Teambesprechungen kommt das Thema „harmonische Zusammenarbeit“ immer wieder auf die Tagesordnung, was meistens in gegenseitigen Vorwürfen und endlosen Diskussionen endet. Die Stationsleitung ist nicht in der Lage, diese Besprechungen emotionslos und professionell zu moderieren.
Die Pflegedirektorin versucht, einzelne Mitarbeiter durch Ultimaten zu disziplinieren, die daraufhin den „Krankenschein sprechen lassen“ oder die Station verlassen.
Letztendlich soll ein „Wunschdienstplan“ den Wünschen der Mitarbeiter entgegenkommen; man hofft, damit Konflikten entgegen zusteuern. Ein solcher Plan ist aber wegen des Personalmangels (real oder durch Krankheit und Urlaubszeiten bedingt) kaum realisierbar. Am Ende hat die Stationsleitung die Klinik verlassen und die Stellvertretung hat auf eine andere Station gewechselt und ist „wieder ins Glied“ gegangen. Die nun eingesetzte Interimsstationsleitung zeigt schon erste Erschöpfungssyndrome und möchte die Position schnellstmöglich wieder abgeben.
Weitere Informationen zu den Themen Teamkonflikte finden Sie hier:
Klinikmediation:Stationsalltag
Was ist eigentlich ein Konflikt?